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Titel
Gegenarchive. Bäuerliche Autobiographik zwischen Zarenreich und Sowjetunion


Autor(en)
Herzberg, Julia
Erschienen
Bielefeld 2013: Transcript – Verlag für Kommunikation, Kultur und soziale Praxis
Anzahl Seiten
494 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Heiko Haumann, Departement Geschichte, Universität Basel

In russischen Archiven liegen Schätze: Unzählige bäuerliche Autobiographien aus dem 19. und 20. Jahrhundert sind dort aufbewahrt. Allein die Geschichte ihrer Überlieferung ist abenteuerlich, die Julia Herzberg in ihrer Bielefelder Dissertation nachzeichnet. 300 Lebensgeschichten hat die Autorin ihrer Studie zugrunde gelegt. Im Mittelpunkt ihrer Auswertung stehen allerdings nicht die Erfahrungen der Landbevölkerung, nicht unmittelbar deren Leben – das wäre eine neue Arbeit, sich die Welt der Bauern über diese Selbstzeugnisse zu erschliessen –, sondern die Art, wie die Texte «gemacht» und konstruiert wurden. Julia Herzberg versteht sie als «Produkte eines Aushandlungsprozesses» (S. 405). Ihr geht es um die Motive der Schreibenden, um deren Sinnzuschreibungen und Identitätsbildungen sowie um die Kommunikationsräume, in denen sie entstanden. So stellt sie das Instrumentarium bereit, bäuerliche Autobiographien zu analysieren. Nicht zuletzt werden «gesamteuropäische Biographiemuster» (S. 406) sichtbar.

Folgerichtig gliedert sie ihre Untersuchung nach drei Kommunikationsräumen. Der erste bezieht sich auf Presse und Publizistik. Julia Herzberg kann zeigen, dass die Bauern im Wesentlichen über die erlebte Sklaverei in der Leibeigenschaft, über die Behinderung ihres Talents oder über ihre religiöse Konversion, in der Regel vom Altgläubigentum zurück zur Orthodoxie, schrieben. Ihre Geschichten folgten traditionellen Biographiemustern und orientierten sich an der Erwartungshaltung der Herausgeber ihrer Schriften. Sie konnten manchmal «die Utopie einer Modernisierung Russlands durch das Dorf und auf dem Land illustrieren» (S. 149). Offenbar waren die Autobiographien zwar «Teil der Lebenswelt» (S. 33), aber zugleich inszeniert. Sie sind demnach keineswegs ein unmittelbarer Spiegel der ländlichen Verhältnisse. Julia Herzberg verdeutlicht dies an mehreren Beispielen, nachdem sie zunächst den allgemeinen Kontext geschildert hat.

Ähnlich geht sie auch in den folgenden Kapiteln vor. Die Erwartungshaltung der Adressaten für die Veröffentlichung spielte ebenfalls im zweiten Kommunikationsraum eine Rolle, den die Autorin erforscht hat: in den Autobiographie-Projekten. Namentlich behandelt sie die Vorhaben von Vladimir Bonč-Bruevič (1873–1955), Nikolaj Rubakin (1861–1946) und Aleksandr Jacimirskij (1873– 1925). Alle drei verfassten Aufrufe an die Bauern und verfolgten dabei besondere Zwecke. Der spätere Bolschewik Bonč-Bruevič, ein begeisterter Sammler und Archivar, wollte die Lebensgeschichten von «Sektierern» aufbewahren und publizieren, weil er in den religiösen Abspaltungen einen sozialen Protest gegen die zaristische Gesellschaft und einen Ausdruck kommunistischer Lebensweise er blickte. Wie sich anhand der oft jahrelangen Korrespondenz sagen lässt, gingen viele Bauern auf diese Vorgaben ein, knüpften am hagiographischen Muster des Märtyrertums an oder stellten eine allmähliche politische Bewusstwerdung dar. Dabei entwickelten sie aber durchaus auch eigene Vorstellungen. Rubakin ging es um eine «Zivilisierungsstrategie» (S. 268). Die Bauern sollten zur «Volksintelligencija » werden (S. 278). Wiederum gab es «Musterbiographien» (S. 283), Vorbilder und Kriterien, die das bäuerliche Schreiben anleiteten. Doch unter diesen Ansprüchen radikalisierten sich die Bauern und entwickelten eigene Partizipationswünsche. Ähnliche Motive bestimmten den Slawisten Jacimirskij. Er wollte eine «Galerie russischer Naturtalente» (S. 290) herausgeben und suchte bäuerliche Poeten und Künstler. Der Leistungsdruck erwies sich jedoch als zu gross. Jacimirskij musste sein Projekt schon bald wieder aufgeben. Bonč-Bruevič und Rubakin – dieser dann in der Schweizer Emigration – setzten ihre Initiativen auch nach der Revolution von 1917 fort. In beiden Fällen bedeutete der Stalinismus das Ende ihrer Bemühungen. Wie Julia Herzberg am Beispiel des 1937 erschossenen Michail Novikov belegt, verloren die schreibenden Bauern «jegliche Deutungsmacht über (ihre) eigene Autobiographie» (S. 260). Nicht verhindert werden konnte immerhin die Aufbewahrung der Schriften. In der Analyse der Korrespondenz zwischen den Bauern und den Projektinitiatoren tritt im Übrigen Herzbergs Methode besonders deutlich hervor: «Statt sich anzumaßen, in die Köpfe historischer Akteure hineinzublicken, ist es ein Hauptanliegen dieser Studie, die Beziehungen nachzuzeichnen, in denen autobiographisches Schreiben stand» (S. 266).

Anders gelagert ist ein dritter Kommunikationsraum, das «Schreiben im Familienkreis» (S. 317). Da diese Zeugnisse in der Regel nicht veröffentlicht wurden, strebten die Bauern nicht nach «Aufmerksamkeit» (S. 317). Sie dokumentierten – oft in Tagebüchern – ihren Alltag, wollten Regelmässigkeiten etwa beim Wetter herausfinden, bestimmte Vorgänge vor dem Vergessen sichern, Charaktereigenschaften hervorheben, Erfahrungen weitergeben, Bilanz ziehen. Weiterhin dienten diese Schriften der Selbstdisziplinierung oder erfüllten religiöse Funktionen. Häufig tauchen Träume und Visionen auf, die auch Einblicke in gewandelte Deutungsmuster ermöglichen. Zahlreiche Tagebücher wurden nach dem Tod der Erstschreibenden von Familienmitgliedern weitergeführt. Man schrieb «als Familie» (S. 370), das Niedergelegte wurde offenbar vielfach in der Familie kommuniziert, sodass ein «Familiengedächtnis» entstand (S. 372). «Das gemeinsame Tagebuch diente der Familie als identitätsstiftender Erinnerungsort, der Rückbezug und die Verfertigung einer gemeinsamen Vergangenheit erlaubte» (S. 382). Tote und Lebende waren dabei vereint. Auch Bäuerinnen beteiligten sich an diesen kollektiven Autobiographien. Wenn sie selbst ein Tagebuch schrieben, verfassten sie weniger ein «Wirtschaftsbuch» wie meist die Bauern, sondern ein «Schreibebuch»: Sie erzählten über Ereignisse (S. 400). Weibliche Selbstzeugnisse sind in geringerem Masse überliefert. Vermutlich schrieben die Frauen weniger aufgrund der höheren Analphabetenrate und Arbeitsbelastung. Bauern lernten eher lesen und schreiben. Nicht zuletzt war die Wehrpflicht für die Schreibfähigkeit bedeutsam, die Erfahrungen im Militär gaben häufig auch den Anstoss, ein Tagebuch zu führen. Hier berichtet Julia Herzberg im Übrigen dann doch ausführlicher über diese Erfahrungen, und es rührt sich ein leises Bedauern darüber, dass aufgrund ihrer Fragestellung nur punktuell etwas über das Leben in den Dörfern zu lesen ist. Der Kommunikationsraum der Familie wurde ebenfalls im Stalinismus zerstört, insbesondere durch die Kollektivierung. «In vielen Fällen erstickte die Kollektivierung mit der bäuerlichen Autonomie auch das Erzählen über das eigene Leben» (S. 417). Die bäuerlichen Autobiographen vertraten «Gegenwelten und ein Selbstkonzept» (S. 368), das nicht mehr geduldet wurde. Doch wiederum konnte eine Menge der «Gegenarchive» bewahrt werden. Meistens gelangten sie seit den 1960er Jahren in die regulären Archive.

Insgesamt ist Julia Herzberg ein faszinierendes Buch gelungen. Anders als bisherige Autobiographieforscher hat sie den Blick über die frühe Sowjetunion hinaus auf die Zarenzeit ausgeweitet, und sie hat weniger das «Selbst» der Bauern als deren «Beziehungsnetze» im Auge (S. 404). Besonders ist hervorzuheben: Das Bild des primitiven, anarchischen, gewaltbereiten Bauern, wie es bis heute auch in wissenschaftlichen Arbeiten undifferenziert weitergegeben wird, muss nach ihrer Studie endgültig als unhaltbar gelten.

Zitierweise:
Heiko Haumann: Rezension zu: Julia Herzberg, Gegenarchive. Bäuerliche Autobiographik zwischen Zarenreich und Sowjetunion, Bielefeld: transcript Verlag, 2013. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 64 Nr. 2, 2014, S. 358-360.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 64 Nr. 2, 2014, S. 358-360.

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